Mittwoch, 5. Januar 2011

Kälte

Meine Füße schmerzen. Ich bahne mir den Weg durch Schnee und Eis, laufe meist auf der Straße und halte den Daumen raus, wenn ein Auto an mir vorbeifährt. Was ziemlich selten passiert. Es ist irgendwas zwischen halb drei und fünf Uhr morgens am 25. Dezember und ich bin stark betrunken. Ich bin fertig. Körper und Geist wollen nicht mehr. Meine Beine beschweren sich. Etwa vierzig Minuten dauert der Heimweg. Ab und zu rollen Tränen über mein Gesicht. Leere mischt sich mit Bitterkeit und nach einem langen Heiligabend zerstören der Alkohol und die Müdigkeit die Fassade, mit der ich nach außen hin meine Gefühle versuche zu kontrollieren. Ich betrete die Wohung, gehe auf die Toilette, danach ins Bett. Währenddessen heule ich. Ich kann mich nicht daran erinnern, wann ich mich das letzte Mal so zerstört fühlte. Glücklicherweise sind meine Mitbewohner nicht da.

Zuvor spüle ich meine Hilflosigkeit auf zwei Parties reichlich herunter. Zum Glück habe ich etwas Geld zu Weihnachten bekommen. Eigentlich für eine Hose bestimmt, fuck it. Auf der ersten Party gibt es Hochprozentiges for free und ich tanze mit einem Typen walzermäßig. Es gelingt mit nicht und ich lache über meine katastrophalen Tanzschritte. Die Musik ist furchtbar, aber das stört nicht.

Am frühen Abend des 24. sitze ich bei meiner Großmutter, zu der ich vom Haus meiner Eltern gelaufen bin. Der Öffentliche Nahverkehr ist fast zum Erliegen gekommen. Ich erkläre ihr, warum wir dieses Jahr nicht bei meinen Eltern Heiligabend verbringen und bin mir nicht sicher, ob sie die Gründe wirklich versteht. Einige Augenblicke lang kämpfe ich mit den Tränen und gewinne. Das deprimiert mich.

Die Stunden davor verbrachte ich bei meinen Eltern. Ich versuche mit meiner Mutter ein Gespräch zu führen. Aus ihrer Sicht gelingt es. Doch sie schafft es nicht, ihre Gedanken zu ordnen, es gibt keinen roten Faden. Sprunghaft wechselt sie Themen. Sie nimmt eine Verpackung und macht mich auf Sätze aufmerksam, die ihr unlogisch erscheinen, die sie verfolgen. Sie räumt Gegenstände in der Wohnung um. Ihr gesamtes Wesen ist verändert und diese Feststellung geht mir durch Mark und Bein. Es erschüttert mich heftig, sie so zu sehen. Mehrmals beisse ich mir auf die Lippen oder auf die Zunge. Ich möchte nicht weinen. Sie hat seit drei Tagen die Medizin abgesetzt, die psychotische Ausbrüche bei ihr blockieren sollen. Mein Vater hat tiefe Furchen unter den Augen. Er weint, während er spricht. Eine Flasche Schnaps hat nicht geholfen, seinen Schmerz zu verdrängen. Ich habe ihn noch nie so am Boden zerstört erlebt.

Mir war klar, was an diesem Tag auf mich zukommen würde, als mein Vater mir am Vormittag
betrunken per Telefon Bescheid gab, dass ich zuhause bleiben sollte. Es ist nicht das erste Mal, dass ich das erlebe. Es zieht sich wie Kreise durch mein Leben. Fünfzehn Jahre brennt sich die Krankheit meiner Mutter in meine Persönlichkeit ein und klammert sich an meine Psyche, an mein Selbstbewußtsein, blockiert mich in der Fähigkeit, Menschen zu vertrauen, ihnen meine Gefühlswelt mitzuteilen. Wie eine unüberwindbare Mauer steht die Krankheit zwischen mir und meinen Eltern. Vielleicht auch zwischen mir und allen anderen. Ich kann es ja auch nachvollziehen. Wer will schon Medikamente nehmen, die das gesamte Leben dämpfen, die einen auf das Sofa fesseln, die die Freude und Lust am Leben verbauen, die Energie und Kreatitivität ersticken, obwohl man sich eben nicht krank fühlt.

Der Schnee lähmt das öffentliche Leben, die Krankheit meine Familie. Busse und Bahnen kommen zum Erliegen. Menschen ziehen sich in ihre Wohnungen zurück. Dunkelheit überwiegt. Kälte lässt mich erstarren.

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